DC-Netzwerk: Das Kontrollparadoxon

DC-Netzwerk: Das Kontrollparadoxon

Eine Fallstudie aus unserer Flaggschiff-Installation


Die Falle, in die fast jeder tappt

Stellen Sie sich folgendes Szenario vor:

Sie sind im Urlaub. 500 Kilometer von zuhause entfernt. Ihr Handy zeigt eine Benachrichtigung: Firmware-Update für Ihren Wechselrichter verfügbar. Sicherheitspatch. Sollte zeitnah installiert werden.

Sie öffnen das VPN, verbinden sich mit Ihrem Heimnetzwerk, navigieren zum Webfrontend ihres Wechselrichters, oder via Service-Portal oder oder... spielen die Firmware auf und: Der Wechselrichter fährt herunter. Die 230-V-Versorgung des Hauses geht aus. Und damit auch... Ihr Router. Ihr Switch. Ihre Internetverbindung.

Sie haben sich gerade selbst ausgesperrt.


Das Kontrollparadoxon

Ein Kontrollsystem darf nicht von dem abhängen, was es kontrolliert.

Das klingt offensichtlich. Ist es aber nicht - zumindest nicht in der typischen Heiminstallation.

Die meisten Haushalte mit Photovoltaik und Speicher haben eine Architektur, die so aussieht:

Stromnetz ──┬── Wechselrichter ── 230V AC ──┬── Router
            │                               ├── Switch
            │                               └── Access Points
            │
            └── Batteriespeicher

Alles hängt am 230-V-AC-Ausgang des Wechselrichters. Wenn der Wechselrichter ausfällt, neu startet oder abgeschaltet wird, geht alles aus. Inklusive der Infrastruktur, die Sie brauchen würden, um das Problem zu diagnostizieren.


Der halbe Weg: Wo viele Installationen stehen

Fairerweise: Viele moderne PV-Installationen nutzen bereits DC für Teile der Infrastruktur. In Victron-Systemen beispielsweise läuft das GX-Gerät (Cerbo GX, Venus GX) direkt am Batteriespeicher. Es ist lokal unabhängig vom 230-V-Netz.

Das ist ein guter Anfang. Bei einem kurzen Wechselrichter-Neustart bleibt das Monitoring erhalten. Lokal.

Aber:

Der Kommunikationspfad vom GX-Gerät zur Außenwelt verläuft typischerweise so:

GX-Gerät (DC) ── Ethernet ── Switch (AC) ── Router (AC) ── Internet

Der Switch hängt am 230-V-Netz. Der Router auch. Wenn der Wechselrichter ausfällt, ist das GX-Gerät zwar noch aktiv - aber es kann nicht mehr nach außen kommunizieren. Sie können nicht darauf zugreifen. Die Benachrichtigungen kommen nicht an.

Das ist die Lücke, die wir geschlossen haben.


Die Lösung: Direkt an die Batterie

In unserer Flaggschiff-Installation haben wir das Kontrollparadoxon aufgelöst:

Batteriespeicher (48V)
        │
        ├── Wechselrichter ── 230V AC ── Haus
        │
        └── DC-Netzwerk-Infrastruktur
                    │
                    ├── Switch (DC-Eingang)
                    │       │
                    │       └── PoE (48V)
                    │             │
                    │             ├── Access Points
                    │             ├── IP-Kameras
                    │             └── VoIP-Telefone
                    │
                    └── Router/Firewall (DC)
                            │
                            ├── Glasfaser-Uplink
                            └── LTE-Backup

Die gesamte Netzwerk-Infrastruktur ist vom Wechselrichter unabhängig.

Der Switch bezieht seine Versorgung direkt aus dem Batteriespeicher. Der Router ebenfalls. Wenn der Wechselrichter neustartet, merkt das Netzwerk davon... nichts.


Warum 48 Volt perfekt passt

Die Wahl der Spannungsebene ist kein Kompromiss - sie ist ein glücklicher Zufall der Industriegeschichte.

Batteriespeicher:

  • LiFePO4-Systeme arbeiten typischerweise mit 16 Zellen in Serie
  • Nominalspannung: 48 V (16 × 3,2 V)
  • Bereich: ~42 V (leer) bis ~58 V (voll)

PoE (Power over Ethernet):

  • IEEE 802.3af/at/bt arbeitet mit 48 V
  • Toleranzbereich: 44-57 V
  • Perfekte Überlappung mit dem Batteriebereich

Ubiquiti-Equipment:

  • Viele UniFi-Switches haben DC-Eingänge
  • Spezifiziert für ~54 V DC
  • Direkte Verbindung zum Batteriespeicher möglich

Das bedeutet: Keine DC/DC-Wandler nötig. Die Batteriespannung kann direkt in den Switch eingespeist werden. Weniger Komponenten, weniger Verluste, weniger Fehlerquellen.


Die Kette der Unabhängigkeit

Gehen wir die kritischen Komponenten durch:

Switch

Der zentrale Switch ist das Herzstück. Er verteilt Netzwerk und Strom an alle Endgeräte.

  • Eingang: Direkt vom Batteriespeicher (48 V nominal)
  • Ausgang: PoE an alle Endgeräte

Solange die Batterie Spannung liefert, läuft der Switch. Der Wechselrichter kann tun, was er will.

Access Points

Alle WLAN-Access-Points werden über PoE versorgt. Keine separaten Netzteile, keine 230-V-Abhängigkeit.

  • Wenn der Switch läuft, laufen die APs
  • Wenn die APs laufen, gibt es WLAN
  • Wenn es WLAN gibt, können Sie Ihr Smart Home steuern

Router/Firewall

Der Router ist die Verbindung zur Außenwelt. Er muss unter allen Umständen funktionieren.

  • Primär: Glasfaser-Uplink (der ONT ist ebenfalls DC-versorgt)
  • Backup: LTE-Modem (integriert oder extern, DC-versorgt)
  • Stromversorgung: Direkt vom Batteriespeicher

Selbst wenn der Glasfaser-Uplink ausfällt (Bagger durchtrennt Kabel, Provider-Ausfall), bleibt die LTE-Verbindung. Und beide sind vom Hausnetz unabhängig.


Das Uncanny-Valley-Erlebnis (Teil 2)

In unserem Artikel über SELV-DALI haben wir das seltsame Gefühl beschrieben, wenn bei einem Stromausfall das Licht weiter brennt.

Mit dem DC-Netzwerk kommt eine zweite Ebene hinzu:

Sie schalten die Anlage ab. Der Wechselrichter fährt herunter. Das 230-V-Netz ist tot.

  • Der Kühlschrank ist aus
  • Die Kaffeemaschine zeigt nichts an
  • Der Fernseher ist dunkel

Aber:

  • Das WLAN funktioniert
  • Das Internet funktioniert
  • Ihre Smart-Home-App zeigt alle Sensoren
  • Sie können den Wechselrichter wieder einschalten

Es ist, als hätte das Haus zwei getrennte Nervensysteme. Das eine (230 V AC) können Sie abschalten. Das andere (48 V DC) läuft einfach weiter.


Praktische Szenarien

Szenario 1: Firmware-Update aus der Ferne

Sie sind nicht zuhause. Ein kritisches Update muss eingespielt werden.

  1. VPN-Verbindung über LTE oder Festnetz
  2. Zugriff auf das Victron-Portal
  3. Update starten, Wechselrichter startet neu
  4. 230-V-Netz kurz unterbrochen
  5. Netzwerk bleibt online
  6. Wechselrichter kommt zurück
  7. Volle Kontrolle während des gesamten Vorgangs

Szenario 2: Netzausfall

Das Stromnetz fällt aus. Der Wechselrichter schaltet in den Inselbetrieb.

  • Die Umschaltung dauert einige Millisekunden
  • Empfindliche Geräte könnten diese Unterbrechung bemerken
  • Das DC-Netzwerk bemerkt... nichts
  • Sie können den Netzzustand remote überwachen

Szenario 3: Wechselrichter-Defekt

Der worst case: Der Wechselrichter fällt komplett aus.

  • 230-V-Versorgung des Hauses: tot
  • Kritische Verbraucher: tot
  • Aber: Netzwerk, Kameras, Kommunikation: funktionieren
  • Sie können den Zustand diagnostizieren
  • Sie können Hilfe organisieren
  • Sie sind nicht blind

Szenario 4: Böswilliger Angreifer

Ein Angreifer will Ihre Überwachungskameras ausschalten.

  • Er trennt Ihr Haus vom öffentlichen Stromnetz
  • Er manipuliert sogar remote Ihren Wechselrichter
  • Die 230-V-Versorgung ist komplett tot

Ergebnis: Die Kameras laufen weiter. Sie werden über PoE vom Switch versorgt, der direkt an der Batterie hängt. Der Angreifer müsste physisch in Ihr Haus eindringen, um die Überwachung zu deaktivieren - und würde dabei gefilmt.


Die Grenzen des Systems

Ehrlichkeit gehört dazu: Das DC-Netzwerk ist kein Perpetuum mobile.

Abhängigkeit vom Batteriespeicher:
Wenn die Batterie leer ist, geht auch das DC-Netzwerk aus. Allerdings:

  • Ein typischer Speicher hält das Netzwerk tagelang
  • Das Netzwerk verbraucht nur wenige Watt
  • Lange bevor die Batterie leer ist, haben Sie das Problem erkannt

Spannungsschwankungen:
Die Batteriespannung schwankt mit dem Ladezustand (42-58 V). Die verwendeten Geräte müssen damit umgehen können:

  • Ubiquiti-Switches: spezifiziert für diesen Bereich
  • Router: muss entsprechend ausgewählt werden

Kosten:
DC-fähige Netzwerk-Hardware ist nicht immer die günstigste Option. Aber:

  • Die Mehrkosten sind überschaubar
  • Eine klassische USV für die gleiche Funktionalität wäre teurer
  • Die Lösung ist eleganter und wartungsärmer

Zusammenfassung

Das Kontrollparadoxon ist eine Falle, die in der Begeisterung für Smart Home und Photovoltaik oft übersehen wird. Man baut ein hochintegriertes System - und schafft dabei eine kritische Abhängigkeit, die im entscheidenden Moment zum Verhängnis werden kann.

Die Lösung ist konzeptionell einfach:

  1. Identifizieren Sie die Kontrollinfrastruktur - Router, Switches, Access Points, Management-Schnittstellen
  2. Versorgen Sie diese direkt aus dem Speicher - nicht über den Wechselrichter
  3. Stellen Sie redundante Uplinks sicher - Festnetz und LTE, beide DC-versorgt

Das Ergebnis ist ein System, das Sie niemals aussperrt. Egal was passiert - solange die Batterie Ladung hat, haben Sie Zugriff.

Und ja, auch hier gibt es dieses seltsame Gefühl: Sie schalten die "Stromversorgung" ab, und das Internet funktioniert weiter. Nach einer Weile fühlt es sich richtig an. Alles andere fühlt sich wie ein Designfehler an.


Dieser Artikel ist Teil unserer Fallstudien-Serie über die WHIP-Flaggschiff-Installation. Weitere Artikel: SELV-DALI: Licht ohne Netz


Technische Eckdaten:

  • Batteriespeicher: 48 V nominal (LiFePO4, 48-58 V Bereich)
  • Netzwerk-Switch: DC-Eingang, PoE-Ausgang
  • Router: DC-Versorgung
  • Uplinks: Glasfaser + LTE, beide netzunabhängig